Ich war gestern bei einem Mann, der kreiert unfassbare Kunst. Reinhard Zabka, sagt mir der Flyer im Nachhinein.
Ein Freund sah meine Fotos seiner Werke und beschrieb sie sofort folgerichtig als „Kunst der inneren Welt”. Man kann Archetypen darin erkennen, aber auch Systemkritik, politische Themen oder einfach nur wie ein Kind im Süßwarenladen dastehen und staunen.
Kannst Du Chaos ertragen?
Kannst Du in Alltagsgegenständen Kunst sehen?
Kannst Du den Entdecker, die Entdeckerin, in Dir wach und lebendig halten?
Kannst Du noch staunen?
Kannst Du es aushalten, wenn es viele Fragen gibt und keine Antwort darauf?
Dann ist dieser Ort der richtige für Dich.
Ansonsten nimm Deine Beine in die Hand und lauf!
Radebeul. Auf meinem Weg zurück in die Heimat Berlin, lege ich eine spontane (sichere) Vollbremsung hin, aber nicht wegen des wundervollen Neuschnees, der schon seit Stunden vom Himmel fällt, sondern wegen einer Haus-Fassade.
Der Name, der dort in großen Lettern steht, und die gesamte Gestaltung der Fassade hatten meine Aufmerksamkeit erregt und so fahre ich voller Neugier rechts ran.
Dampf ist Wasser im Zustand höchster Begeisterung.
Sprüche wie „Dampf ist Wasser im Zustand höchster Begeisterung.“ und „Es gibt Lügen da hört der Spaß auf und es gibt Lügen da fängt der Spaß an.“ sind neben zahlreichen Gemälden an der Hauswand befestigt.
„Lügenmuseum“ steht dort in großen Lettern. Ich bin unsicher, was sich hinter dem Begriff verbirgt und ob es sich dabei nicht wieder um einen Ort „nur für Kinder” handelt, weil so viele Orte, die bunt, unkonventionell und phantasievoll sind oft „lediglich“ für Kinder gemacht werden.
Schon der Vorraum ist im positiven Sinne eine totale sensorische Über-oder Herausforderung für mich. Eine Unübersichtlichkeit und Komplexität, die man auch erst einmal aushalten können muss 🙂 UN-Ordnung im Sinne von „für den Verstand nicht einzuorndnen“ und daher wohl auch für einige schwer zu ertragen, so mag die kleine Tochter eines Freundes diesen Ort hier beispielsweise absolut nicht leiden. „Sie hasst ihn regelrecht.“, sagt er mir belustigt.
Nachdem ich 20 Minuten lang fasziniert und von dieser neuen, aber vor allem total unerwarteten Welt eingefangen war, muss mich meine Begleitung mit den Worten zum Tresen zerren: „Dana, das ist erst der Vorraum und noch nicht die Ausstellung!”
Am Einlass gibt es Lügentee „nach einem Rezept von Hildegard von Bingen“ aus wunderschönen kleinen Porzellanschälchen, “der hilft für das Lügen, dagegen und beim Unterscheiden.”
Zugegeben, damit hatten sie mich schon. 🙂 Es ist diese Art der Gastfreundschaft und Gastlichkeit, die ich sehr liebe. Dieses kleine Ritual des gemeinsamen Eincheckens, Ankommens und Teetrinkens, das an Orten wie Berlin mit tausenden Besuchenden in überfüllten Museen nun einmal schwer authentisch herzustellen ist.
Authentisch – noch ein Wort, mit dem man das „Lüseum“, ein Wortspiel aus Lügen und Museum, beschreiben kann. So arbeitet Reinhard beispielsweise direkt im ersten Ausstellungsraum während des normalen Betriebes direkt am Tresen und auf dem Fußboden mit Leim, Werkzeug und Akkuschrauber zwischen den Besucher:innen an seinen neuesten Projekten.
„16 Räume“, sagt die Frau am Einlass, gibt es zu bestaunen. Jesus, ich war schon nach dem ersten Raum, dem Vorraum, im positivsten Sinne, total fertig oder anders gesagt „er-füllt, ge-füllt, ausge-füllt.”
Schon nach dem einen Raum gab es für mich genug Eindrücke zum Verarbeiten.
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An der Hausfassade steht neben „Lügenmuseum” und „LÜSEUM“ auch noch der Zusatz „poetische Orte” und so geschieht es automatisch, dass ich hier – beim Versuch diesen kleinen magischen Ort zu beschreiben – etwas schwurbelig und poetisch werde und mich einiger Kalendersprüche und Phrasen bediene, weil dieser Ort anders als poetisch auch schwer zu beschreiben ist.
So hörte ich Reinhard sagen, dass manche das Lüseum als „Flohmarktsammlung“ beschrieben hätten, was mir fast das Herz bricht. Mein Mitgefühl für Menschen, die nicht mehr als das darin sehen wollen. Für manche mag es nur eine Flohmarktsammlung sein, aber ich stand bereits im Vorraum mit offenem Mund und großen Staunen da und war zu Tränen be- und gerührt. „Man sieht nur mit dem Herzen gut”, denke ich und das gilt nicht nur für den kleinen Prinzen. Für die einen mag es nur Müll sein oder Nippes, der hier für das Erstellen neuer Kunstwerke verwendet wird, aber für mich „das Ganze definitiv mehr, als die Summe seiner Teile”, um ein weiteres Mal das Phrasenschwein zu bemühen. Kunst ist nicht weniger wert, nur weil sie nicht aus Farben oder hochwertigen Materialien gezaubert wurde. Wer es schafft, aus Dingen, die für andere die Bedeutung längst verloren haben, etwas Neues von Wert zu schaffen, ist ein kleiner Magier für mich.
Meiner Meinung nach brauchen wir mehr solcher Welten.
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Für manch Kind und Erwachsenen, der die Ordnung und Struktur des Geistes liebt, schätzt oder einfach braucht, mag dieser Ort zu viel sein. Aber so ist es nun mal mit den Menschen: Manche lieben angelegte Gärten, ihre Klarheit und Struktur, andere das ungeordnete, undurchdringliche Chaos der Natur.
Hier im Lüseum lässt sich nichts erfassen, weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick. Nicht mal auf den dritten. Was unter den Fans für zahlreiche Wiederholungstaten sorgt, da man immer wieder Neues im Bekannten entdeckt bzw. sich einem manche Kunstwerke in all ihren Aussagen und Bedeutungsebenen erst nach und nach und wahrscheinlich auch jeden Tag neu und anders erschließen.
Meine kleine Begleiterin, LuLu, z.B. war schon fünf mal hier und auch ich werde wiederkommen. Fasziniert von den immer neuen und tiefen Welten, die sich einem erschließen, weil man einfach alles loslassen muss, wenn man diese Galerie, dieses Museum, diesen Ort betritt. Geht man mit Erwartungen oder vorgefertigten Vorstellungen von einem Kunstmuseum, einem Ort, der sich „Wahrheit und Lügen“ auf die Fahne schreibt, hinein, wird man wahnsinnig werden oder zumindest wahnsinnig genervt. 🙂
Es gibt Lügen da hört der Spaß auf und es gibt Lügen da fängt der Spaß an.
Was mich zu der Frage bringt: Warum heißt es „das Lügenmuseum“, wenn es „augenscheinlich” nichts mit Lügen zu tun hat? Zunächst sieht der Betrachter Kunst aus Nippes und Spielzeug, Papier, Instrumenten und Blumen. Von welcher Art Lüge sprechen wir hier? Viele politische Anspielungen sind zu finden. Kulturelle Artefakte überall. Aber auch hier ist man eingeladen weiter herum zu phantasieren und zu sehen was man sehen mag. In die „Lüge der Realität,“ oder der yogischen Illusion MAYA abzutauchen, die es abzustreifen oder hinter deren Vorhang es zu blicken gilt.
Und so berichtet mir Reinhard auch, dass es auf der Website einmal zehn Varianten zum Lesen für die Besucher gab, über die Gründungsgeschichte dieses Museums. Jeder sollte sich einfach die passende aussuchen.
Reinhard – Gründer, Besitzer, Kurator (selbst hier fehlen die Begriffe, weil jeder Begriff auch immer eine Schublade und ein Urteil enthält) war viel in Asien und sagte mir, in Bali fühlte er sich sofort zu Haus. Daran habe ich keinen Zweifel, ich sehe das überall in seiner Kunst, ob literally (Figuren, Düfte, Musik, Darstellungen und Instrumente aus der Region schleichen sich überall in die Werke mit ein) oder auch indirekt. Denn nur ein Geist, der bestimmte Traditionen, Welten und Sichtweisen erfahren hat, kann diese Art Ort produzieren, der für mich eine Mischung aus „Alice im Wunderland“, wildem Pilztrip und Verkörperung einer archetypischen Traum-Welt ist.
Einen Ort, der so viele Bedeutungen und Deutungen zulässt. Und sowohl der Künstler als auch der betrachtende Besucher müssen es aushalten können, dass es keinen Konsenz über die Wahrheit und die Bedeutung des Dargestellten geben wird, geben kann.
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Ich habe heute Nacht sogar von dem Gespräch mit Reinhard geträumt: Ich stimme ihm zu, wenn er sagt, manche Fragen sollten unbeantwortet und Kunst vielleicht unerklärt bleiben, aber dieser MENSCH interessiert mich und so war auch meine erste Frage, nachdem ich zwanzig Minuten lang schon vom Vorraum fasziniert und gefangen war: „Sind sie der Kurator bzw. Künstler?“ Prompt kam die Frage zurück: „Und wer sind sie?“ „Eine Suchende, eine mit vielen Fragen.” antwortete ich, in der Annahme, dass man einem Mann wie Reinhard nicht mit Namen oder Berufsbezeichnungen kommen kann. Mich interessiert, was das für ein Mensch ist, der diese Kunst aus sich heraus produziert und diesen Ort hier anderen zur Verfügung stellt.”
Erst viel später, kurz vor Ladenschluss, sitze ich mit einem weiteren Lügentee und Reinhard am Tisch. Den ich bis dahin immer noch nicht beim Namen kenne, erst später zurück in meinem Berlin googeln werde und erfahre: Das Gebäude war mal ein Gasthof, 2012 ist Reinhard mit dem Lüseum hier eingezogen nun soll es geschlossen und in eine Kneipe verwandelt werden.
Dieser Post ist nicht in erster oder zweiter Linie politisch und ich werde mich zu den Hintergründen der Petition nicht äußern oder positionieren, schon allein weil ich zu wenig Verständnis davon habe.
Ich für mich fühle einfach folgende Wahrheit: Es braucht Orte wie diesen. Und dieser Ort ist für mich der Grund, noch einmal nach Radebeul zu kommen.
Nur mit einer Sache stimme ich nicht überein: Im Museumsshop wird unser guter alter Nietzsche zitiert: “Wir brauchen die Kunst, damit die Wahrheit uns nicht zu Grunde richtet.”
Ich glaube hingegen, wir brauchen Kunst, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.
AUM. HAUM. Amen.
Eure Dana.